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„Dieses kleine Werk entstand in schwerster Zeit aus tiefster Not!“ – Künstlerische Existenz und Ghettoerfahrung in Edwin Geists ‚Für Lyda. Tagebuch 1942‘

Silvia Machein


Seiten 57 - 84

DOI https://doi.org/10.33675/SGER/2022/1/7


open-access

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Die Aufzeichnungen, die der aus Berlin stammende Musiker und Komponist Edwin Geist 1941– 1942 in Kaunas anfertigt, unterscheiden sich in Bezug auf Schreibanlass und Inhalt von sonstigen Tagebüchern und Berichten, die Erfahrungen in nationalsozialistischen Ghettos und Lagern thematisieren. Die intendierte Leserin ist seine Frau, für deren Freilassung aus dem NS-Ghetto er sich über Monate hinweg einsetzt; dokumentiert werden sein zäher Kampf mit der deutschen Besatzungsverwaltung und den litauischen Behörden sowie Alltagserfahrungen unter den Bedingungen von Krieg und Terror. Der Beitrag untersucht, auf welche Weise der Verfasser seine Beziehungen zu Personen aus dem bildungsbürgerlichen Milieu der Zwischenkriegshauptstadt und zu den NS-Funktionären beschreibt, über die er die Verbindung zum Ghetto aufrechterhalten kann, wie er der kulturell fremden Umgebung eine persönliche Topografie entgegensetzt und aus Musik, Literatur und Kunst Deutungsmuster für seine aktuelle Situation wie auch für sein bisheriges Leben bezieht. Sein Festhalten an schöpferischem Selbstausdruck und ein hohes Maß an Reflexivität machen Geists Tagebuch zum Zeugnis einer Existenz zwischen künstlerischer Selbstbezogenheit und geistig-kulturellem Widerstand.

The writings of German musician and composer Edwin Geist from the years 1941–1942 in Kaunas, Lithuania, differ in their intention and content from other diaries and reports written in similar circumstances. The intended reader is his Jewish wife in whose liberation from the NS-ghetto he engages over months; he documents his tough battle with the German occupation administration and Lithuanian authorities as well as his everyday experiences in times of war and terror. This essay analyzes how the author describes his relationships with the intellectual and cultural elite of the temporary interwar capital and with Nazi officials that enable him to stay in contact with the ghetto, how he sets a personal topography against the culturally alien environment and how music, literature and art are a means to frame his current situation and his previous life symbolically. His consistent focus on creative self-expression and a high level of reflexivity in his diary are evidence of a life between artistic self-centredness and cultural resistance.

Schlüsselwörter/Keywords: Kaunas, Ghetto, Tagebuch/diary, Topografie, Musik und Shoah/ music and Shoah, Künstlertum/artistry, kultureller Widerstand/cultural resistance, Edwin Geist, Helene Holzman

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