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Ghettos in Selbstzeugnissen

Alltag und Selbstbehauptung im Schatten der Vernichtung

Andrea Löw


Seite 19

DOI https://doi.org/10.33675/SGER/2022/1/5


open-access

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In den Ghettos, die die Nationalsozialisten im besetzten Osteuropa einrichteten, entstanden neue gesellschaftliche Strukturen, die hier eingeschlossenen Jüdinnen und Juden organisierten ihr eingeschränktes und stets gefährdetes Leben neu. Zwar bestimmten die deutschen Besatzer die Rahmenbedingungen jüdischen Handelns, doch hatten die Menschen in den Ghettos ihren eigenen, beschränkten Handlungsspielraum. Wollten sie nicht im Chaos untergehen, mussten sie versuchen, unter existenzbedrohenden Bedingungen ihren Alltag zu organisieren und ihrem Leben einen Rahmen zu geben. Es gab Versuche der Selbsthilfe, die Verfolgten kämpften gegen Hunger und Krankheiten, für die Bildung ihrer Kinder, für ihr kulturelles Leben und mit all dem um ihre körperliche und geistige Selbstbehauptung. Die Forschung der letzten Jahre hat analysiert, wie die Verfolgten sogar angesichts der ständigen Konfrontation mit Deportationen und letztlich mit dem Tod versuchten, ihre Situation zu gestalten und ihr Leben zu organisieren. Die Verfolgung hatte auch gravierende Auswirkungen auf das soziale und private Leben, Familienstrukturen änderten sich unter den Bedingungen des Ghettos ebenso wie Geschlechterrollen. Themen wie Liebe, Freundschaft oder die Rolle von Humor innerhalb der Ghettogesellschaft können anhand von Tagebüchern und Berichten ebenfalls untersucht werden. Einen radikalen Einschnitt bedeutete der Beginn des Massenmords, und auch hier waren die Reaktionen der Menschen unterschiedlich: Zahlreiche Ghettobewohner versuchten, sich der Deportation zu entziehen, indem sie sich um einen Arbeitspass bemühten, sich versteckten oder auf die ‚arische‘ Seite flüchteten; einige planten sogar bewaffneten Widerstand. Andere gingen, zermürbt nach jahrelanger Ghettoerfahrung, wie befohlen zu den Sammelplätzen. Diese vielfältigen Reaktionen der Verfolgten werden im Aufsatz auf der Grundlage jüdischer Selbstzeugnisse nachgezeichnet.

In the ghettos that the National Socialists established in occupied Eastern Europe, new social structures emerged; the confined Jews reorganized their restricted and always endangered lives. Although the German occupiers determined the framework for Jewish activity, people in the ghettos had their own limited room for maneuver. If they did not want to sink into chaos, they had to try to organize their daily lives under conditions that threatened their existence and to give their lives a framework. There were attempts at self-help, the persecuted fought against hunger and disease, for the education of their children, for their cultural life and with all this for their physical and mental self-assertion. Research in recent years has analyzed how the persecuted, even in the face of constant confrontation with deportation and ultimately death, tried to influence their situation and organize their lives. The persecution also had serious effects on social and private life; family structures changed under the conditions of the ghetto, as did gender roles. Topics such as love, friendship, or the role of humor within ghetto society can also be examined on the basis of diaries and reports. The beginning of mass murder marked a radical turning point, and here, too, people‘s reactions varied: numerous ghetto residents tried to evade deportation by seeking a work pass, going into hiding, or fleeing to the ‚Aryan‘ side; some even planned armed resistance. Others, worn down after years of ghetto experience, went to the assembly points as ordered. All these diverse reactions of the persecuted are traced in the essay on the basis of Jewish self-testimonies.

Schlüsselwörter/Keywords: Ghettos, Selbstbehauptung/self-testimonies, Selbstzeugnisse/selfassertion, Alltag im Holocaust/daily lives in the Holocaust

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